Die Verweigerung
Mit ihren scharfkantigen Gliedmaßen hatten sie ihm die Sitzpolster aufgeschlitzt, erkannte der Fahrer und bemühte sich seinen Ärger herunterzuschlucken. Zorn auf seine Schäfchen, wenngleich es auch nur noch teilweise menschliche Schäfchen waren, war nicht der Weg, den ein Priester beschreiten sollte.
Auf der Fahrt hierher, zu einem der Zugänge zu dem dunkelrotesten Viertel der Stadt, hatten seine beiden Fahrgäste von ihm Absolution für weitere Amputationen ihrer Gliedmaßen und deren Ersatz durch die angesagtesten High-Tech-Prothesen erbeten, und natürlich hatte Vater Jon ihnen diese erteilt. Schließlich war dies Teil seines Jobs. Und dieser sowie all der anderen Fahrer war es: Es für die verdorbenen verloren Streuner hier unten auf ihren letzten Metern etwas leichter zu machen.
Die beiden Hardwarefreaks hatte ihn bezahlt und das Priestertaxi verlassen − in einer der illegalen Praxen, die sich auf den Hinterhöfen der verbotenen Gasse befanden, würden sie sich ihren Selbstverstümmelungen hingeben.
Nachdem sich die beiden durch den schmalen Durchgang in der Barrikade vor der Gasse gedrückt hatten, wartete der Fahrer noch eine Minute, dann sprang er aus dem Taxi zu einer Stelle, die nicht mehr vom Licht der einzig funktionierenden Straßenlaterne beschienen wurde. Er hatte zwar strikte Anweisung nicht aus dem Wagen zu steigen, bis seine Schicht vollendet war, doch waren für seine Arbeitgeber menschliche Bedürfnisse nicht vollumfänglich nachvollziehbar, wie Vater Jon schon als junger Novize erkennen musste. Der Fahrer erleichterte sich an die Mauer einer ausgebrannten Ruine, als er das Geräusch hörte. Sofort versiegte der Strahl.
Nein, ganz sicher, er hatte sich getäuscht. Nichts hatte er gehört.
Niemals hätte er aussteigen sollen. Schnell zurück zum Wagen und dann ab nach Hause. Genug verlorene Seelen waren für heute von A nach B gebracht worden. Das Soll war erfüllt und das verständnisvolle Wohlwollen seinen Mitmenschen gegenüber war aufgebraucht.
Der Fahrer raffte seine Albe zusammen, um das bis zu den Knöcheln reichende Kleidungsstück nicht in der Autotür einzuklemmen. Er setzte gerade einen Fuß ins Wageninnere, als er erneut das Weinen hörte.
Unmöglich über die Entfernung bis zum Eingang der Gasse und dann eine unbekannte Anzahl an Schritten in das verbotene Gebiet hinein, diese Laute dermaßen deutlich zu vernehmen. Einbildung! Täuschung! Endzeitlicher Humbug!
Er ließ sich in den Sitz seines Taxis sinken und fasste die Tür am Griff.
Seine Arbeitgeber hatte ihn bezüglich des Auftretens dieser Art von Anomalien instruiert. Jeder Fahrer war instruiert worden: Vorkommnis melden und Schauplatz verlassen. Aber eine Meldung würde Befragungen nach sich ziehen. Überstunden. Doch hatte er gehört, was er gehört hatte, oder etwa nicht?! Nein, ach was! Es war nur diffuser Sirenengesang, der von den Hinterhöfen der Irrenhäuser, die sich in der der verdorbenen Gasse befanden, an sein Ohr gedrungen war. Und lasst mich nicht in Versuchung geraten! Fuck off! Feierabend! In Gedanken öffnete der Fahrer seine Soutane, legte die Füße auf den Schemel vor seinem Sessel daheim und ließ den Kronkorken vom Flaschenhals zischen.
Er legte den Kopf zurück und blickte durch die Windschutzscheibe hoch zur Raumstation seiner Arbeitgeber. Seit mehr als zwanzig Jahren hing das Kreuz aus tausend Lichtern dort oben. Als damals die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen auf der Welt anfingen zusammenzubrechen, hatten seine Arbeitgeber ihr Domizil auf der Erde verlassen und dort im Orbit ihre neue Residenz bezogen. Das Zeichen des Herren sollte den Menschen hier unten in ihren dunkelsten Stunden ein Licht sein, während alles zu Ende ging. Dem Fahrer war jetzt, als würde es für ihn seine Leuchtkraft nachdrücklich intensivieren: Fahr nach Hause, Sohn! Sofort.
Er schlug die Autotür zu, startete den Motor und legte den Rückwärtsgang ein. Dann würgte er den Wagen ab.
Sein Blick glitt ab vom Kreuz, das flackernd über dem Eingang zur Gasse hing, hin zu einem der Sterne daneben. Dieser hatte vor einigen Wochen begonnen immer heller zu strahlen. Auch dieses Phänomen war gemäß seinem Arbeitgeber zu ignorieren. Es handele sich um eine entfernte Supernova, die rein gar nicht mit dem Leben und dem Glauben auf diesem Planeten zu tun hätte.
„Verdammte Kacke!“ rief Vater Jon aus. Dann öffnete er die Fahrertür und hievte seine Körper mitsamt seiner Seele aus dem Priestertaxi. Er zog seine Albe zurecht und richtete den Kragen. Aus dem Kofferraum nahm er das schwere hölzerne Kreuz und die Stablampe und schob sich durch den Durchgang zur Gasse.
Schritt um Schritt machte er tiefer in die Dunkelheit. Vorbei an überquellenden Müllcontainern, an schrill bunten Plastikleichen, den Pandemien und den Kriegen, vorbei an atomaren Zwischenfällen und dem Einschlagsort des Asteroiden NA2026, immer weiter in die Gasse hinein.
Dort, von dem Hintereingang kam das leise Weinen.
Vater Jon umklammerte Kreuz und Lampe und lauschte in die Nacht hinein. Er war sich all der Augen und Ohren und Mündern in den Schatten gewahr, die auf seinen nächsten Schritt warteten und kichernd und seufzend darüber frohlockten, dass er sich in diese Situation begeben hatte − es war, als lausche die Nacht auch auf ihn.
Auf der Schwelle der Tür stand ein Karton. Aus ihm kamen die Laute. Zwei Gestalten in weiten Gewändern knieten links und rechts davon. Beim Nähertreten erkannte der Fahrer sie.
Einer der Hardwarefreaks hielt mir seiner metallenen Klaue den Deckel des Kartons geöffnet. Als der Fahrer ihn mit seiner Lampe anstrahlte, wendete dieser sich ihm zu. Unter der Kapuze wurde die Haut mit stählernen Klammern zu einem menschlichen Gesicht zusammengehalten. Doch die Augen glänzten feucht und der Mund war ein Lächeln. „Hey, Fahrer, komm schnell! Es ist-…“ Der Fahrer trat an den Karton heran. „…wunderschön!“, hauchte der Entstellte seinen Satz zu Ende.
Das Kind war gebettet in Styroporflocken und mit einem Stück Folie zugedeckt. Den Fahrer durchfuhr der Gedanke: Dieses Mal also Pappe und Styropor, kein Stall und Stroh …
Als er dem Kind mit der Lampe ins Gesicht leuchtete, schrie es auf und versuchte den Kopf wegzudrehen. Es war schon leicht blau, erkannte der Fahrer. Da erfasste er seine Albe und riss sich ein großes Stück davon vom Körper. Er hob das Kind aus der Kiste und wickelte es darin ein.
Die beiden Kybernetischen blinzelten zu ihm auf. Als sich ihre Blicke trafen, sah der Fahrer, dass sie begriffen, was vor sich ging. In Ehrfurcht neigten sie ihre metallenen Schädel. „Möge es eine Hoffnung für die Menschen sein und sie zurückführen auf einen lebenswerten Weg durch das Chaos“, sagte der eine mit zitternder Stimme. Der andere warf seinen Kompagnon einen überraschten Blick zu und wiederholte dann dessen Satz.
„So sei es“, sprach der Priester. Vorbei an den Schatten und den feixenden Stimmen trug er das Bündel zum Taxi. In seinen Gedanken rumorte es: Wirklich und wahrlich! Ein neues Kind! Vielleicht hat die Menschheit doch noch eine letzte Chance! Und ich mit ihr.
Ehe der Fahrer den Motor startete, stellte er sicher, dass das Taxameter deaktiviert und die Meldung zum Schichtende gesendet war.
Das Licht der Raumstation schien mit tausend Fingern nach ihm zu heischen, während der Stern daneben in dem Rhythmus eines neuen Herzschlags pulsierte.
+ *
„Ich meine das, was zwischen A und B passiert, Junge − die Geschehnisse zwischen Prolog und Epilog − die eigentliche Handlung, wenn du so willst, das Leben, wenn man wach ist − dein Leben! Aber wenn ich mir dein Skript so anschaue, ist da nicht viel Ausgangsmaterial für eine heldenhafte Geschichte!“
Vorbei an seinem Fahrgast auf der Rückbank betrachtet der letzte Geleiter den nachfolgenden Verkehr. Er setzt den Blinker, gibt Gas und biegt um die Ecke, Richtung Hafenviertel.
„Jaja, ich weiß.“, antwortet der Mann von der Rückbank. „Man hatte Großes mit mir vor. Ich sollte die Welt retten, den Menschen Frieden bringen, blabla … Mein Ziehvater hörte nicht auf mir damit in den Ohren zu liegen.“
„Jon war ein guter Mann!“
„Ja, ein guter braver Mann. Ein spitzenmäßiger Beichtvater!“
„Rede nicht so spöttisch!“
„Ja, ja, ihr Fahrer haltet zusammen, was! − Er war so gut, dass es nicht auszuhalten war!“
Es gelingt dem letzten Geleiter nicht alle Spuren des Zorns aus seiner erzwungen ruhigen Stimme zu halten, als er sagt: „Nein, so gut war er auch wieder nicht! Glaub mir. Er war ein Mann mit Lastern. Menschlich halt. Aber er wollte nur das Beste für dich.“
„Ach, so wie mein wirklicher Vater? Der Übermenschliche?! Und was ist mit meiner Mutter? Unbekannt verzogen? Hä?!“
„Sicherlich ist nicht alles perfekt in diesem Leben gelaufen, Junge, das ist aber kein Grund so dermaßen gegen alles und jeden zu rebellieren. Dass du dich so sehr in Mathematik und Physik verloren hast, während alles um dich herum vor die Hunde ging, ist eine Schande!“
Im Rückspiegel sucht der letzte Geleiter die Augen seines Fahrgastes. Doch dieser betrachtet aus dem Seitenfenster die nächtlichen Straßen durch sie fahren.
„In einigen Formeln und Berechnungen fand ich, was ich suchte.“
„Und was war das?“
„Ich sah IHN. Seine Präsenz. Seine Größe. Etwas, das ich in den Menschen und in der Natur, die sie zerstört hatten, nicht mehr erkannte.“
„Ich verstehe dich. Aber dafür hat er dich nicht gesandt. Du solltest sie retten und bestimmt nicht an den Berechnungen beteiligt sein, die der Konstruktion der letzten großen Bombe dienten!“
„Ich habe dieses Mal nur versucht mit dem Strom zu schwimmen − mich anzupassen. Die Menschen zu retten ist ein Kampf gegen die Menschen. Sie wollen es nicht. Einerseits suchen sie eine höhere Macht, andererseits sind sie nicht Willens eine Existenz über die Ihre zu stellen. Sie sagen, sie wollen Frieden, sind aber unfähig dazu. Nächstenliebe? Nur eine nette Idee. Jeder ist sich selbst der Liebste, und selbst das Selbst wird feierlich verstümmelt.“
„Nicht alle sind so!“
„Aber zu viele. Es macht keinen Sinn! Selbst die Schweine oben in ihrer Raumstation, von der aus sie den Niedergang betrachten und darauf warten, dass sich hier unten nichts mehr rührt, damit sie frei sind, erlöst von allem weltlichen und endlich in die Weiten des Alls aufbrechen können, haben das längst erkannt.“
„Ich halte auch nicht viel von denen, aber immerhin haben sie den Menschen damals die Fahrer dagelassen.“
Der junge Mann auf der Rückbank seufzt und blickt wieder aus dem Fenster. „Die Straßen dort draußen … so viel Leuchtreklame, so wenig Menschen …. Und die Lichter in den Pfützen wirken, als wären sie es, die echt wären, als ginge das Licht von ihnen aus und würde sich in den Laternen und Schildern und Fenstern spiegeln.“
„Es sind deine Straßen, durch die wir fahren. Die Straßen in deiner Seele. Deine Lichter. Deine Dunkelheit. In der materiellen Welt brennen die Städte, schon vergessen? Genau das ist der Punkt. Junge, du hast es vermasselt! Das ist es, was ich sehe, wenn ich auf das Leben blicke, das du geführt hat.“
Der Mann auf der Rückbank zuckt die krummen Schultern. „Ich war nicht stark genug. Und zu sensibel. Es gab zu wenige, die mir geholfen hätten.“
„Du hättest mehr motivieren können, dir zu helfen!“
„Ach, was. Es war bereits zu spät für sie.“
„Das sieht er aber anders.“
„Ja, er hat immer etwas in ihnen gesehen, das mir schleierhaft ist.“
„Er hat noch immer Hoffnung für seine Schöpfung.“
„Er hat noch immer Hoffnung, dass er nicht versagt hat!“
„Pass auf, was du sagst!“ Der letzte Geleiter tritt auf die Bremse und lässt zwei dunkelgekleidete Nachtwanderer die Straße passieren. Ruckartig schleppen sie ihre Körper durch die Lichtkegel der Scheinwerfer.
„Warum ich? Warum soll ich geradebiegen, was er und sie vermasselt haben!“, mault der junge Mann auf der Rückbank. „Vielleicht rebelliert auch diese Schöpfung gegen ihren Schöpfer. Vielleicht brauchen sie das auf ihrem Weg. Lässt sie wachsen, Reife gewinnen. Was weiß ich. Höchstwahrscheinlich aber traben sie alle über die Klippe in den bodenlosen Abgrund. Und ich kann nicht sagen, dass ich das bedauere. Obwohl ich dieses Mal wirklich versucht hatte mich anzupassen, damit sie gar keinen verdammten Grund hatten mich zu lynchen, haben sie mich wieder gekillt! Zur falschen Zeit am falschen Ort − auf offener Straße erschossen! Echt zum Kotzen! − Wie dem auch sei. Es ist gelaufen. Vermutlich endgültig. Zum Glück.“
„Dann tut es mir leid.“
„Schon okay. Gut nur, dass es vorbei ist.“
„Nein, es tut mir leid, dass deine Reise dieses Mal noch nicht zu Ende ist.“
„Wie bitte?“
„In all den Jahrtausenden meiner Tätigkeit als letzter Geleiter ist es nie geschehen, dass ich jemanden im Kreis gefahren habe. Aber dich bringe ich zurück, Junge. Zurück zum Anfang, zurück in die Gasse, in der Jon dich findet. Du bekommst eine neue Chance. Und mit dir die Menschheit. Es ist Zeit eine Geschichte zu schreiben, die die Welt bewegt. Ich glaube an dich und werde dieses Mal das eine und andere auf deinem Weg für dich arrangieren. Damit du es leichter hast, Junge. Nur reiß dich verdammt noch mal zusammen! Wer weiß, vielleicht schaffen wir zusammen auf diese Weise sogar ein Happy End.“
Copyright@Gunther Bauer, April 2025

