Schaalmannplatz 57 – keiner der Namen auf den Klingelschildern sagten Willem noch etwas. Er machte zwei Schritte zurück und blinzelte unter seinem Schirm hervor am Gebäude hoch.
Vor dem Licht des Mondes schob sich der Vorsprung des Satteldachs über die Straßenschlucht. Das Haus wirkte längst nicht mehr so groß, wie er es in Erinnerung behalten hatte.
Feuchte Tropfen schlugen Willem ins Gesicht und rannen über seine Wangen. Schnell richtete er den Schirm wieder auf.
Damals, vor mehr als zwanzig Jahren, einige Wochen nachdem Yvette ihn nach ihrer man muss es wohl Affäre nennen verlassen hatte, war er das letzte Mal hier gewesen. Willem hatte herausfinden wollen, ob er es wagte, die verfluchte Schräge des Satteldachs allein zu übersteigen. Aber auch an diesem Tag hatte er es nur bis auf das Flachdach geschafft, hilflos die Steigung aus Ziegeln angestarrt und sich verflucht für seine Furcht.
Jetzt also ein neuer Versuch.
Mal sehen, was die Jahre für einen Unterschied machen, dachte Willem und trat wieder an die Klingelschilder heran. Ärgerlich war nur, dass es regnete – das würde die Angelegenheit auf dem Dach absurd gefährlich machen. Vielleicht sollte er wiederkommen, wenn es trocken war, vielleicht im Sommer … Doch, nein − Schluss! Er hatte genug nicht gewagt.
Am Abend zuvor hatte Willem sein Fotoalbum durchblättert, anschließend schlecht geschlafen und musste Träume gehabt haben, die seinen Schlafanzug mit Schweiß durchnässten. Als er am nächsten Morgen ins Bad geschlurft war, hatte der Mann im Spiegel sich ihm ledrig und vergilbt präsentiert. Beim Frühstück dann war es geschehen: Der Zug war entgleist. Das war schon des Öfteren geschehen, aber nie hatte es ihn so mitgenommen, wie dieses Mal.
Pünktlich hatte der Zug den Bahnhof auf dem Küchentisch verlassen, war an der dampfenden Kaffeemaschine vorbeigedüst und hatte die Steigung erklommen, die auf den Kühlschrank führte. Danach war der Zug am Berg der dreckigen Wäsche herabgedonnert und über die Schwelle der Küchentür ins Wohnzimmer geschossen. Willem wusste, welchen Weg der Zug dort nahm: Um das Sofa herum und über das Gestell vor den Fenstern, das einen Felshang simulierte und wieder zurück Richtung Küche.
Aber der Zug war nicht zurückgekommen.
Willem hatte ihn vor dem Sofa auf der Seite liegend gefunden. Er hatte ihn aufgehoben und in die Küche getragen. Mit brennendem Gesicht hatte er auf das verunglückte Ding gestarrt und seine Gedanken waren mit ihm davongerast: Es gibt keine Garantie auf eine Reise ohne Zwischenfälle und nicht auf einen angenehmen Aufenthalt an einem der Zwischenhalte. Und es ist dumm sich so etwas zu erhoffen und dass es einem Glück verspricht. Es auszusitzen kann nicht der Weg sein, hatte er gedacht, während er die kleinen Räder des Triebwagens betrachtete. Das alles ist Zeitverschwendung − das alles ist Mist. Mist im Maßstab 1:120.
Die Stunden bis zum Abend hatte Willem verbracht, indem er sich Gründe für und wider eines weiteren Besuchs im Schaalmannplatz 57 zurechtlegte. Kurz vor halb sieben hatte er gewusst, dass die vernünftige Entscheidung war, es sein zu lassen.
Willem hatte seinen Mantel angezogen, seinen Schirm genommen und die Wohnung verlassen.
Jetzt stand er hier und musste einen der Namen auf den Schildern auswählen, um jemanden mit seinem Geläut und seiner Geschichte zu belästigen. Welches Recht hatte er hierzu? Er sollte gehen.
Willem presste seine Handfläche an die Haustür und ein Spalt tat sich auf zwischen ihr und ihrem Rahmen. Sie war nicht verschlossen, sie musste kaputt sein, alle die hier lebten waren in Gefahr, schoss es Willem durch den Kopf. Jeder konnte kommen und gehen und Sachen mit sich nehmen oder bringen, heimlich und unerlaubt.
Willem schob sich in das Innere des Gebäudes und begann seinen Aufstieg. Sofort kam ihm der Geruch im Treppenhaus bekannt vor − der Geruch der dutzenden Welten, die hinter den Türen der Wohnungen lagen und sich hier zu einem Oeuvre mischten. Die Schuhe vor den Türen kannte er und die Lampen an den Wänden und das Metallgeländer, das nach oben führte. Willem stieg bis in den dritten Stock, legte hier eine Pause ein, im fünften eine weitere – und erklomm die letzten Stufen des Treppenhauses.
Die Decke in diesem Geschoss war viel niedriger als in den anderen Stockwerken − als hätten die Erbauer plötzlich nicht mehr genug Platz bis zum Dach gehabt. Nein, Willem suchte in seiner Erinnerung − das war ihm damals nie aufgefallen. Hier lagen sich die Türen der obersten beiden Wohnungen gegenüber und belauerten sich, wie vor Jahrzehnten.
Kleiner und etwas verborgen lag hinter einer Nische noch eine weitere Tür. Hinter ihr führte eine schmale Treppe zu einer Metalleiter, über die man auf das Dach stieg.
Das erste Mal, als Yvette ihn hierher mitgenommen hatte, hatte sie ein Geheimnis daraus gemacht, wohin sie ihn führte. Verheißungsvoll und voller Freude hatten ihre Augen ihn angestrahlt. Dann hatte Yvette die Sprossen der Leiter genommen, die Luke hochgedrückt und zusammen waren sie auf das Dach hochgestiegen. Teerpappe hatte den flachen Bereich um die Luke herum überzogen. Hier hatten sie eine Decke ausgebreitet und hatten Wein getrunken und über die Altstadt geblickt. In jeder Form und Ziegelfarbe reihten sich die Dächer hier, manchmal standen die Häuser so nahe zusammen, dass man mit einem Schritt auf das Dach des Nachbarn hätte steigen können.
Willem hängte sich seinen Schirm ans Handgelenk und stieg die Leiter hoch. Er öffnete die Luke und Regen schlug ihm ins Gesicht. Dann stand Willem auf dem Dach.
Er spannte seinen Schirm auf und eine Böe riss ihn ihm aus den Händen. In einer Antennenanlage verhakte sich der Schirm und wurde davor bewahrt vom Dach gefegt zu werden. Willem stapfte über die Teerpappe und riss das flatternde Teil aus den Streben heraus. Durch das neue Loch im Stoff konnte er den Mond sehen − den Mond, der die Erde seit Milliarden Jahren umkreiste und niemals seine Bahn verließ. Willem faltete seinen Schirm zusammen und legte ihn auf das Dach. So hatte er beide Hände frei, wenn es um den Aufstieg ging.
Damals hatte Yvette seine Hand ergriffen und ihn aufgefordert, mit ihr zusammen die Schräge zu erklimmen. Doch, hoch an den rutschigen Dachpfannen ohne Halt und Begehung − wohin sollte er seine Füße setzten, woran sich festhalten? Er hatte abgelehnt. Yvette hatte eine ihrer riesigen Kaugummiblasen gemacht, die ihr Gesicht verdeckte, dann hatten sie sich wieder auf ihrer Decke auf dem Flachdach ausgestreckt und in den Himmel gestarrt.
Wieder riss der Mond Lücken in die Wolkendecke und ließ die Dachpfannen nass glänzen. In seinem Licht schienen die Ziegel tonig, leicht zerbrechlich und nicht gemacht, um einen Menschen zu tragen.
Willem legte beide Handflächen auf die Dachschräge.
Der Winkel des Dachs ließ einen Aufstieg nicht zu. Es war unmöglich. Nicht machbar. Dezimeter für Dezimeter schob er sich langsam das Dach empor. Der Wind zerrte an seinem Mantel und an seinem Haar.
Und dabei weiß ich, auf was man von der anderen Seite blickt, schoss es Willem durch den Kopf. Gerade noch bin ich auf der Straße dort unten auf und ab gegangen. Da sind zwei Restaurants und ein Schuhladen, eine Apotheke, das Bürogebäude, sonst nur Wohnhäuser, die Straße ist komplett mit geparkten Autos in beide Richtungen gesäumt. Nichts also, dass …
Willem rutschte aus und fiel lang auf das Dach. Das Knacken der brechenden Ziegel hallte in seinen Zähnen wider. Er hätte es wissen müssen: Er schaffte es nicht. Er war zu schwach. Zu blass. Er hätte vernünftig sein müssen. Jetzt würde er in das schwarze Loch stürzen, das er selbst gerissen hatte.
Die Ziegel unter ihm knirschten, aber das Satteldach brach nicht.
Es hat keinen Sinn, ich muss mich zurückgleiten lassen und wieder auf das Flachdach steigen, dachte Willem, ganz vorsichtig, und dann zurück zur Luke …
Was wäre gewesen, wenn er und Yvette es damals geschafft hätten? Welchen Verlauf hätten ihre Leben genommen?
Alles wäre möglich gewesen. Und er wäre jetzt nicht hier.
Willem stellte sich vor, er wäre nicht so schwer. Er stellte sich vor, er würde entgegen der Schwerkraft und dem Gesetz der Trägheit einfach die dünnen Ziegel hochstolzieren. Er würde auf der anderen Seite die aufgehende Sonne sehen und Yvette, die dort säße. Sie würde spüren, dass er käme und würde sich zu ihm umdrehen. Sie würde ein Lächeln im Gesicht haben und ihre Augen würden so strahlen, wie sie es beim ersten Mal getan hatten und sie würde sagen: Da bist du ja endlich − hast lange gebraucht. Und vielleicht: Alt bist du geworden. Und auch Yvette wäre alt geworden. Aber sie wäre gut gealtert und noch immer schön. Er würde nichts sagen, nur nicken. Willem würde die Schräge des Dachs zu ihr hinabgleiten und sich neben sie setzten und mit ihr auf das blicken, was immer dort war. „Schön hier!“, würde er dann sicherlich sagen. Daraufhin würde Yvette nicken − immer noch mit ihrem Lächeln im Gesicht.
Seine rechte Hand umklammerte den Dachfirst. Willem zog den Rest seines Körpers hoch und seine Arme zitterten; dann traf ihn ein Luftzug im Gesicht, der warm war, als hätte sich das Wetter schlagartig geändert.
Mit einem Bein auf der einen und einem auf der anderen Seite lag Willem auf dem First des Satteldachs und presste sich an die feuchten Ziegel. Willem pumpte die Luft in seine Lungen und spürte seine Arme und Beine, seinen Kopf, seine glühenden Ohren, das Jucken in der Nase, die Schürfwunden an den Fingerknöcheln, seine Knie, er spürte einfach alles.
Ihm war auch, als könnte er jeden einzelnen Bewohner des Schaalmannplatzes 57 unter sich im Gebäude spüren − wie sie den Atem anhielten und auf das lauschten, was hier auf dem Dach vor sich ging. Dann atmeten sie wieder aus und ein und machten weiter mit dem, womit sie vor mehr als zwanzig Jahren aufgehört hatten.
Auf der anderen Seite mündete die Dachschräge in einem schmalen Sims. Willem ließ sich das Dach hinuntergleiten und hockte sich auf den Vorsprung.
Er hatte es geschafft. Er hatte es auf die andere Seite geschafft.
Tauben brüteten hier oben. Sie hatten Äste und anderes Zeug hier hoch geschleppt.
Willem fuhr mit der Hand über den Boden neben sich. Mit den Fingern harkte er Zweige und Steinchen zusammen. Dünne weiße Streben, von denen Willem dachte, es müssten blanke Knochen von kleinen Tieren sein, die hier oben verendet waren, ebenso wie Vogelfedern und loses Drahtgeflecht.
Er legte seine Hand auf den Haufen und ließ sie dort ruhen.
Ein heller Schimmer zeichnete sich hinter den Dächern der Stadt ab.
Yvette hatte recht gehabt: Die Aussicht von hier war die Sicht auf ein anderes Universum.
Willem war sich sicher zu spürten, wie sich etwas in dem Haufen bewegte, den er zusammengeschoben hatte − etwas bahnte sich seinen Weg und ergriff seine Hand.
Unten auf der Straße startete der Motor eines Autos.
Die Tauben stakten um ihn herum und fingen an zu gurren.
Willem blickte die Dachschräge hinauf. Von dieser Seite aus sollte es ein Kinderspiel sein, wieder zurückzugelangen.
Bald würden die Bäcker öffnen. Frisches Brot wäre jetzt genau das richtige. Es war Zeit für ein erstklassiges Frühstück. Dabei würde er seine Züge betrachten, wie sie eine neue Strecke nahmen: Durch die Beine des TV-Tisches würden sie dann brettern, über die Weite der Hochflor-Felder jagen und dann in die schärfste Kurve preschen, die er je gelegt hatte.
Copyright@Gunther Bauer, April 2023